PROFILTEXTUR UND TEXTILE KUNST
(Über die emotionale Energie gemusterter Gestaltung)


Im Folgenden wird ein sprachliches Zubrot für die in dieser Ausstellung offenbare Faszination von gemusterter Gestaltung formuliert, um mit der Beschreibung des Erlebnishintergrundes dieser photographischen Arbeit die Empfänglichkeit des Betrachters zu nähren.
In Zentralafrika, in Zaire, dem ehemaligen Belgisch Kongo, gibt es das Königreich Kuba, deren Volksstämme sich durch eine besondere ornamentale Begabung auszeichnen. Insbesondere zum Ausdruck kommt diese in kleinen, als eine Art Wertgegenstand hergestellten Geweben, deren bekannteste vom Volk der SHOOWA stammen. Die Musterung dieser aus Fasern der Raphiapalme hergestellten Textilien ist so vielgestaltig, daß es keine zwei identischen Exemplare gibt. In unendlich vielen Varianten werden lineare und flächige Grundbausteine gleichsam dekliniert und konjugiert; aleatorische Veränderung und anakoluthische Störung der Mustergefüge halten das Auge in Atem.
Seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren immer wieder namhafte Künstler von der eigenartigen Intensität und Präsenz dieser ornamentalen Gestaltung betroffen. Tristan Tzara, Mitbegründer des Dadaismus, hat das Empfangszimmer seines von Loos entworfenen Hauses auf Montmartre mit Shoowageweben ausgekleidet. Otto Wagner, Gustav Klimt und Josef Hoffmann besaßen solche Gewebe und wurden nachweislich in ihrer Jugendstilornamentik wesentlich davon beeinflußt. Paul Klees Alterswerk ist ohne Kenntnis der Bushoong – Ntshaksf – das sind Tanzwickelröcke mit Applikationsverzierungen, kaum verständlich. Chillidas Arbeiten in Metall und auf Papier sind häufig geradezu wörtliche Zitate aus dieser Stammeskleidung.
Dabei scheint es awr wichtig zu bemerken, daß offenbar die Magie der geometrischen Gestaltung etwas im Menschen betrifft, das unabhängig ist von geographischer, rassischer oder kultureller Zugehörigkeit. Diesen Umstand der vitalen Fesselung belegt in umgekehrter Richtung folgende Begebenheit: in den zwanziger Jahren führten Missionare dem damals regierenden Kuba-König Kot Mabinc ein Motorrad vor, doch der König war von der Technologie des Feuerstuhls wenig beeindruckt, wohl aber von den für ihn exotischen Spuren, die die Reifen im Lehm hinterließen; für ihn war das Motorrad kein Transportmittel, sondern ein Musterspurgerät, und er befahl, den Abdruck des Profils zu kopieren, um das Muster dem Repertoire des Stammesdesigns einzuverleiben. Wer diese Geschichte kennt, wird mit Interesse feststellen, daß nicht nur zentraleuropäische Designs zentralafrikanische Einflüsse zeigen, sondern daß auch zentralafrikanische Designs zentraleuropäische Zuflüsse aufweisen.
Das Urerlebnis zur hier gezeigten Photoarbeit über ornamental profiliertes Thermoplastik von Straßenmarkierungen ereignete sich in Frankfurt. Leere und Kraftlosigkeit bei vielen im Museum für moderne Kunst ausgestellten Beispielen zeitgenössicher Hervorbringungenempfindend, bin ich beim Ausgang, den Blick nachdenklich auf die Straße gesenkt, plötzlich wie angewurzelt stehengeblieben, gebannt durch die suggestive Vitalität der von Reifen im Belag gespurten Muster. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich die Missionarsmotorradgeschichte noch nicht, aber ich bin sicher: die Faszination Kot Mabincs in Zaire und des Saalfeldners in Frankfurt angesichts der Pneuprints gründete auf derselben inneren Wahrnehmung eines archetypischen Potentials.
Mit anderen Worten: in der Wahrnehmung der zu Mustern gereihten geometrischen Grundelemente begegnet der betrachtende Mensch einer archaischen Struktur seiner selbst, indem seine angeborene Tendenz zur Ausforrtung von Bildern erregt wird. Diese Tendenz des kollektiven Unbewußten ist vergleichbar mit dem erbgebundenen Impuls von Vögeln, Nester zu bauen, oder von Ameisen, organisierte Kolonien zu bilden. C.G. Jung spricht in diesem Zusammenhang von einem im Archetypus allgemein vorhandenen Fundus von bildprägenden Formmotiven, die je nach kulturellem Kontext und individuellem Bewußtsein verschieden wahrgenommen werden.
So ist zum Beispiel das Kreuz im christlichen Abendland kaum anders wahrnehmbar als ein Zeichen des Folterinstruments und ein Symbol des ewigen Lebens; und doch kommt es mondial quer durch die Kulturen und Zeiträume in unterschiedlichen Bedeutungen vor, von der einfachen Orientierung im Raum bis hin zur Versinnbildlichung des die Frau in Sexualakt durchdringenden Mannes. Beispielhaft besprochen werden soll in diesem Sinne noch die Wellenlinie, da sie in den Profilprints häufig dominiert. Sie gehört neben Pfeil und Kreuz zu den markanten offenen Grundzeichen. Ebenso wie die geschlossenen Grundzeichen - Kreis, Quadrat, Dreieck und deren Derivate – findet man diese planetar bei den verschiedensten Kulturen als Modul symbolträchtiger Gestaltung,
In ärztlicher Umgebung wird man mit der Wellenlinie am ehesten das herzliche Anschwellen und Abschwellen des Pulses assoziieren, oder die Aeskulapnatter mit ihrer durch die Häutung verknüpften Wiedergeburts- und Heilsbedeutung; kontrastierend dazu tritt die Wellenline andernsorts als Schlangen-Symbol für ich-fremde phallische Kraft auf; aber natürlich auch als Wasserzeichen für Lebensenergie; oder als Zeichen schierer Verfolgungslust des Jägers...
An diesem Punkt spätestens wird die Gefahr spürbar, daß Rationalisierung die emotionale Energie von Bildern austrocknet. Es sollte hier lediglich angedeutet werden, daß das Schlüsselerlebnis der Erregung durch geometrische Ornamentik in ein tiefenpsychologisches Schloß paßt. Dieser angedeutete rote Faden könnte uns einen Augenblick weg vom Exerzierfeld der Leistungsgesellschaft zu buchstäblich gereifter Poesie führen.

Ch. Feichtinger