Pressetext zur Werkgruppe "Ferrogramme"

Bei den in der Ausstellung versammelten Unikatdrucken handelt es sich um bildnerische Erkundungen der primitiven Kraft und Schönheit vorgefundener Muster von Schachtabdeckungen (= "man hole covers").
Die in europäischen, amerikanischen und asiatischen Städten entstandenen Arbeiten lenken touristische Aufmerksamkeit auf sonst mit Füssen getretene Kulturgüter als zu ebener Erde einzig wahrnehmbare Zeugnisse unterirdisch angelegter, gigantischer Infrastrukturen zur Ableitung von Wasser in die Ozeane.
Die graphische Umsetzung macht die Schachtabdeckungen als archaische Gestaltungen inmitten hochtechnisierter Urbanisationen sichtbar. In diesem Sinne bedeuten diese Ferrogramme von Christoph Feichtinger ein Kulturzeugnis, das Stammesmustern unserer modernen Zivilisation entspricht.

 

Sieben Memogramme


I
Wovon künden Ferrogramme? Beschreiben sie etwas? Berichten sie vielleicht? Stellen sie sich stolz zur Schau, erfüllt von ihrer eigenen Schönheit? Sind sie eine kühne Erfindung? Ein Akt der Willkür? Oder am Ende ein Produkt des Zufalls? Jedenfalls, diese Straßenkinder sind nun stubenrein, dürfen ins Haus, hängen in Galerien und Museen. Gusseisen hat Kunst bewirkt und provoziert - in uns und unserem Bewusstsein. Nun erst sehen wir, was zu sehen uns schon lange möglich gewesen wäre. Das bislang Ungeläufige wirkt vertraut. Franz Mon, der Dichter-. "Das Erinnerte ist von der Art, dass es nie gewusst werden konnte."


II
Woher stammt Kunst? Ist da allemal eine vorgegebene Realität vonnöten, ein Vorwand, ein Anlass, ein Auslöser?
Dürers Rasenstück - naturwissenschaftliche Forschung?
Monets Kathedralen von Rouen - Diagramme der Meteorologie?
Turners "rain, steam & speed" - ein Protokoll der Luftverschmutzung? Yves Klein - der azurne Himmel über Nizza?
Feichtingers Ferrogramme - Gassenhauer der Kunstgeschichte?
Bleibt bei allem nicht noch ein Rest? Ein Aufstand gegen das Erhabene?


III
Christoph Feichtinger ist Maler. Und da gehört es sich natürlich, dass er zum Schauen bestellt ist, nicht nur zum Machen. Von ihm gibt es gestenhafte Farb-Geschichte, aber auch strenge vegetative Chiffren, biologische Kürzel. Er reduziert, kocht ein, verdichtet, destilliert. Sein Erkennen gilt dem Grund, dem Gründlichen, dem Grundsätzlichen, den Grundformen. Und da musste sein waches begieriges Auge einmal auf Reifenabdrücke oder Schacht-Abdeckungen fallen. Bisher eine Nicht- Kunst, die aber gleichwohl als solche wahrgenommen wird und dann zu Kunst definiert werden konnte. Nur musste sie durch Abdruck zunächst einmal von der Straße gebracht werden. Geomethsche Grundelemente ergeben - je nach Kulturkreis - gemusterte, ornamentale Gestaltungen unterschiedlicher Bedeutsamkeit. Dem geht Christoph Feichtinger nach - im Wortsinn.
Sind diese Deckel nun Kunst? Ist das primitive Volkskunst, an der sich schon die Kubisten delektiert hatten? Oder naive Kunst des reinen Herzens? Könnte man derlei zur "pittura narrativa" fügen, weil so viel "los" ist? Ein klassischer pop-artist hätte Grund zu Eifersucht: Hier waltet vehement sein "big-city-feeling" - und das schon länger als hundert Jahre!
Herausnehmen - Sichtbarmachen - zu Bewusstsein führen, vielleicht auch zu Gemüte ... Im wundervollen "musäe imaginaire" von Andrö Malraux ist den Ferrogrammen reichlich Platz vorbehalten, denn dort fragt niemand nach Zeit, Stil, Epoche, Ort, Land, Kulturkreis oder materieller Kostbarkeit.


IV
Was aber sieht man, was ist dargestellt? Ist überhaupt etwas abgebildet? Gibt es einen Inhalt, gar eine Botschaft? Oder ist das "Ornament" am Rande von "Verbrechen"? Ist das Schmuck? Hilfreiches Piktogramm zur Orientierung? Oder sind da womöglich Signale, gebieterisch und angetan mit Befehlsgewalt?
Vor längerer Zeit dachte man, es gäbe neben dem weiten Bereich gegenständlicher Kunst eine abstrakt-ornamentale. Nach der heilsamen und reinigenden Bewegung des Informel braucht man aber vor solchen Schubladen keine Angst mehr zu haben: Die Niedlichkeit des malerischen Geometrismus (in Paris sprach man von der "peste des petits carr(~s") und die Gefälligkeit der Ornamentalistik sind zum Glück total out. Also wäre die Zeit der Ferrogramme schon vorbei, bevor sie eigentlich angefangen hätte? Unzeitgemäß? Gertrude Stein formuliert es so: "Das Wort 'zeitgemäss' sagt, dass Meisterwerke nichts mit Zeit zu tun haben." Welch köstliche Zeitlosigkeit auf durchaus historischem Boden!


V
Aber lassen wir uns nicht an der Oberfläche der Oberflächlichkeit erwischen! Denn: "Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche" (Hugo von Hofmannsthal). Und die Tiefe ist schützenswert, dafür gibt es Mauern, Zäune, Gitter, Bretter, Platten und oben - Deckel. Das ist Schutz! Da wird behütet, was nicht gestört, beschädigt oder gar zerstört werden darf. Da walten Rätsel. Die gehören nicht auf den Allgemeinplatz - sondern unter ihn. Subtiles Geheimnis, nur von Fachleuten zu lüften.


VI
Vorsicht! Kanal- und Schacht-Deckel wurden nicht geschaffen zum Nachweis der Leistungsfähigkeit gusseiserner Industrien! Und Tourismus-Institutionen gab es noch nicht, als man damals ans Werk ging. Trotzdem ergibt sich eine wundervolle Weltreise, wenn man nur die Herkunft der Deckel beachtet. Da waltet National-Stadt-GemeindeStolz. Aber auch Firmen und Unternehmen signieren gerne die Zugänge zu ihren empfindlichen Eingeweiden. Wasser, Abwasser, Heizung, Lüftung, Bahnbetriebe, Gas, Elektrizität, Radio, Fernsehen, Rohrpost, Telefon und sonstige Kommunikation, dazu Zugänge zu allen möglichen Fundamenten, Nottüren und Fluchtwegen. Alles notwendig, nützlich und bürgerfreundlich, nicht nur um Marilyns Rock anzupusten ...
Aber birgt diese verborgene Unterwelt nicht auch Unheimliches? Alles was das Tageslicht scheut oder scheuen muss-. Spione, Saboteure und - ehemals - "Republikflüchtige"? Tummelt sich da nicht mehr als nur ein dritter Mann? Krokodile will man gesichtet haben, Schlangen und Ratten. Der standhafte Zinnsoldat wohnt da - und in Bukarest die schnüffelnden Straßenkinder. Selbst Orpheus ist froh, wenn er wieder in der Oberwelt ist.
Kardinal Newman sagte über Napoleon, er kenne sich aus in der Grammatik des Schießpulvers. Könnte man nicht über Christoph Feichtinger sagen, er kenne sich aus in der Grammatik des Gusseisens?


Manfred de la Motte

 

Die Archaik der Moderne


Kunst - das war einmal der Ort des Scheins und der Phantasie, des Irrealen und des Fiktiven. Wie immer sie sich im Lauf der Zeiten inhaltlich bestimmte - und sie nahm unendlich viele Gestaltungen an -, sie war stets klar getrennt von der lebenspraktisch bedeutsamen Wirklichkeit. Kunst war immer auch kostbar und selten, die dürftige Wirklichkeit überwältigend präsent. Kunst schuf einen Arkanbereich, einen Raum der Verheißungen und der Freiheit, inmitten einer Welt stummer Notwendigkeit. Die Kunst war die Epiphanie des Transzendenten, die Realität das Reich drückender Immanenz.
Das hat in der technologisch hochgerüsteten Gesellschaft von heute sich verhängnisvoll verkehrt. Die Bilderflut der Moderne hat Kunst und Realität hybridisiert - wir leben in einer durchgestylten Warenwelt und in einem Universum der Reklame. Verheißungen finden sich auf Plakatwänden und Litfaßsäulen, und das Reich der Freiheit verspricht das TV.
Wo aber in der technologischen Moderne die medial vermittelte Wirklichkeit zu einer Bilderwelt wird und damit selbst zum Ensemble des Fiktiven sich wandelt, muß die Kunst, will sie nicht verwechselbar und austauschbar sein mit eben dieser Wirklichkeit und damit ihre eigenständige Existenz als Kunst verlieren (die Banalitäten der PopArt haben das ja vorgeführt), ihrerseits aufhören, Ort und Erscheinungsform des Fiktiven zu sein.
Das ist ein Bruch mit allen ihren Traditionen. Doch unter den Bedingungen des modernen Weges der Wirklichkeit ins Fiktive kann die Kunst sich nur behaupten, wenn sie sich als Antifiktion definiert; und in dem Maße, als die Wirklichkeit weg von der Erfahrung hin
zur Erwartung tendiert, bewegt die authentische Kunst, wie Odo Marquard in luziden ideengeschichtlichen Untersuchungen gezeigt hat, sich weg von der Erwartung hin zur Erfahrung. Kunst ist dann, als Antifiktion, die Enttäuschung des nur Fiktiven durch das Zeigen des Übersehenen.
In seltener Konsequenz und Radikalität hat Christoph Feichtinger diesen Schritt getan, der eine Abkehr von der gesamten bisherigen Kunstgeschichte ist. Er zeigt, im eigentlichen Wortsinn, das Übersehene, das uns permanent umgibt, eine Ornamentik aus einfachsten geometrischen Formen, die in und auf urbanen Industrieprodukten sich findet, aber auch in den Artefakten aller alten Kulturen. Der moderne Purismus wollte das Ornament verbannen -"ein Verbrechen" hat Adolf Loos es genannt. Aber das Verdrängte kehrt wieder, oder besser gesagt: es war immer da, wir haben es nur nicht gesehen - es war da, buchstäblich als Abdruck am Boden unserer Städte.
"Asphaltdschungel" hieß ein berühmter film noir in den Vierzigerjahren. Die Arbeiten von Christoph Feichtinger zeigen, daß das nicht nur eine Metapher war. Das Archaische, das Archetypische, ist in Wahrheit nie verschwunden: Es ist der Boden auf dem wir gehen.


Rudolf Burger

 

Archäologie des menschlichen Bewußtseins


Zu den "Ferrogrammen" von Christoph Feichtinger


Gußeiserne Straßendeckel, Produkte der Zivilisation -
unbemerkt, mit den Straßen verschmolzen, anonym, abgenutzt
- Grundelement des Alltags.
Mit eigener Logik und Symmetrie.
Funktional.
Sollen nur aufgedeckt, angezeigt, angetastet, berührt werden.
Dann folgt das Ritual des Wiedergebens:
Ein präzise eingeschränkter Schauplatz
in den Maßen 44,5 x 26,5.
Und nur noch die Spur festhalten. Abdruck.
Verschiedene Städte, Länder, sogar Kontinente; überall
ähnliche Formen, Grundfiguren: Kreis, Quadrat, Kreuz
Ähnliche Zeichen.
Faszination für den Gegenstand, für dessen Fragment
und für seine neue Spiegelung.
Ornamente zur unbegrenzten Nachahmung.
Wände der Unendlichkeit.
Muster.
Wiederentdeckung von allem.
Nicht Alltägliches des Alltags.
Ornamentik, die Kulturen durchdringt
und Einschränkungen sprengt.
Also die Suche nach dem Gemeinsamen.
Suche nach dem Ursprünglichen -
Archetypen?
Die uns umgebende Wirklichkeit
ist anders.
Um sich auf Dürer zu berufen,
von Feichtinger paraphrasiert:
"Denn wahrhaftig steckt die Menschennatur
in den Gegenständen der Alltagskultur.
Wer sie heraus kann reißen, der hat sie."


Jozef Chrobak

 

The Archaism of la moderne


Art used to be the realm of glitter and imagination, the source of what is unreal and fictional. Regardless of the method with which its essence has been defined over the centuries - and this has assumed infinitely numerous forms - a clear line has always separated it from practical reallty. Art has always been costly and esoteric, whereas mundane reality was omnipresent. Art has created an atmosphere of mystery, a space of promises and freedom in the very centre of the world of bare necessity. Art has been a revelation of hypersensuousness, reality - a kingdom of overwhelming immanence.
All this has changed drastically in a soclety armed with sophisticated technology. The profusion of pictures accompanying la moderne has distorted the "art and reality" idea; today we have been thrust into an overstyled world of goods and a universe of commercials. Promises can be found on walls and fences covered with posters and on hoardings, and at the same time we are lured to the kingdom of freedom by television.
However, always when in a technological la moderne the reality conveyed by the media becomes a world of pictures, thus becoming a set of fictitious elements, art must - lf it does not wish to be confused and interchangeable with this reality, losing its independent existence (which was portrayed so clearly in the banal of pop-art) - cease to be a site and form of expressing fiction.
This implies dissecting its traditional roots. However, considering the conditions of the modern path that leads reallty towards fiction, art can survive only when it is defined as being in apposition to fiction; and so, as reallty goes from experience towards expectation, real art
goes from expectation towards experlence (it was clearly stated in the works of Odo Marquard, who studied the history of thought). Art then becomes - being antagonistic towards fiction - a disillusionment with what is metely fictitious, through showing what was unnoticed, omitted.
Christoph Feichtinger, with rare consistency and radicalism took a step which amounted to a virtual withdrawal from the entire hitherto history of art to date. He shows, in the direct meaning of the word, exactly what was unnoticed, omitted, and which surrounds us permanently; ornaments emerging from simplest geometrical forms, which can be seen both in urban products of industrial processes, but also in art items originating from a plethora of ancient cultures. The modern purism has intended to push away the ornament defined by Adolf Loose as"crime", but what is restrained or pushed away returns, or better - it has always existed, but we have simply never noticed it. It has existed in reality, in the form of an imprint on the soil in our cities.
A known film noir from the 1940's was entitled "The Asphalt Jungle". Works of Christoph Feichtinger demonstrate that it was not only a metaphor. Archaisms, archetypes have never actually vanished; they are the soll on which we tread.


Rudolf Burger

 

Wolfgang Drechsler und Christoph Feichtinger im Gespräch


D Herr Feichtinger, Sie präsentierten im letzten Jahr zwei neue Werkgruppen, die "Ironplate Prints" und die Pneuprint Photos": Bei den erstgenannten Arbeiten handelt es sich um Abreibungen von gußeisernen Abdeckplatten, bei den anderen um Fotos von Reifenspuren. Was verbindet die beiden Gruppen und wie kamen Sie zu dieser doch sehr direkten Auseinandersetzung mit Teilaspekten unserer unmittelbaren Realität?
F Das Urerlebnis für die "Pneuprint-Photos" hatte ich in Frankfurt, als ich, etwas enttäuscht über die gekopfte Kunst, die das dortige Museum für Moderne Kunst zeigte, aus diesem wieder auf die Straße trat, den Kopf gesenkt, nachdenklich. Da fiel mein Blick plötzlich auf einen Reifenabdruck im Thermoplastik eines Zebrastreifens. Spontan spürte ich, daß von diesem eine vitale Kraft ausging. Ich war so gepackt und getroffen, wie ich das sonst nur von Zeugnissen von Stammeskunst her kannte. Und diesem Phänomen bin ich dann nachgegangen.
D Sie sagten, Sie waren enttäuscht von Ihrem Museumsbesuch aufgrund der dort dominierenden "gekopften" Kunst. Das ist kein sehr gebräuchlicher Ausdruck. Was verstehen Sie darunter?
F Ich möchte das an einem historischen Beispiel erläutern: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich Goethe und Herder zu einer Art vitalistischen Ästhetik bekannt. Ich beziehe mich da insbesondere auf eine Schrift von Goethe über die Baukunst, in der er von "Schönheitelei" spricht und diese ablehnt. Dem setzt er eine Kunst entgegen, die aus dem Inne
ren des Menschen heraus entsteht. Um auf das Museum für moderne Kunst zurückzukommen: Ich empfand dort, daß viele der Arbeiten einer existentiellen Wurzel des Schaffens entbehrten, daß es Arbeiten sind, die kunstspekulativ, nicht aber aus dem Inneren heraus entstanden sind.
D Damit kommen wir gleich zu einem Kernpunkt Ihrer Arbeit, Ihres Kunstverständnisses. So schrieben Sie in einem kurzen Text zu diesen Arbeiten von "emotionaler Energie", Was verstehen Sie darunter konkret?
F "Emotionale Energie" ist für mich jene Ausstrahlung eines Werkes, die zum Erlebnis des "Getroffenseins" führt.
D Und diese sehen Sie vor allem, Sie erwähnten es schon, in den Erzeugnissen außereuropäischer Kulturen?
F Ja, und das war es wahrscheinlich auch, was all die Künstler am Beginn unseres Jahrhunderts gespürt hatten, als sie die Nähe zu solchen Erzeugnissen suchten. Sie also Matisse, Picasso, Klee, Max Ernst und viele andere dürften die ästhetisierenden Hervorbringungen der Jahrhundertwende als Blendwerke empfunden haben, die den Ursprung des Schaffens verdeckten. Und Nähe zum Ursprung des Schaffens fanden sie offenbar in den Stammeskulturen oder, wie man auch sagt, in den primitiven Kulturen.
D Glauben Sie, war es wirklich nur der ursprüngliche Ausdruck oder war es nicht auch die ästhetische Erscheinung solcher Erzeugnisse, die die Künstler damals faszinierten?
F Ich bin davon überzeugt, daß es primär die spürbare Kraft war, die von diesen Objekten ausgeht. Natürlich ist diese nicht losgelöst von einer konkreten ästhetischen Gestaltung denkbar. Aber der Ursprung der inneren Berührung ist etwas wie
eine Feldstärke. Und genau dieses Mysterium interessierte mich beim Anblick der Reifenspuren, dem ging ich nach. Was kann das sein, dieses Mysterium des Getroffenseins?
D Dabei sind doch Reifenspuren gleichsam der Inbegriff einer industriellen Fertigung - Auto, Technik, neuzeitliche Zivilisation - und somit fast das Gegenteil zu den von Ihnen vorher angesprochenen Erzeugnissen primitiver Kulturen.
F Ja, genau das hat mich interessiert und verwirrt zugleich. Bald erkannte ich jedoch, daß ich dabei auf etwas gestoßen war wie eine Stammeskunst der Ersten Welt, wenn ich das so ausdrücken darf. Hier zeigt sich auch der Gegensatz zwischen dem, was ich zuvor gekopfte Kunst nannte, und dem plötzlichen Spüren der Kraft von Grundformen. Dabei ist es gar nicht wichtig, ob es sich um industrielle Erzeugnisse handelt, oder ob sie mit der Hand erzeugt wurden. Wichtig für mich war, daß plötzlich mein Blick frei war für eine äußere Entsprechung einer, um mit C.G. Jung zu sprechen, archetypisch in mir, im Menschen überhaupt, angelegten Tendenz zur Formgestaltung.
D Aber ist nicht gerade die Form eines Reifenabdruckes allein das Resultat eines rein funktionalistischen Prozesses, mit dem Probleme der Bodenhaftung oder etwa der Wasserverdrängung gelöst werden sollten?
F Wenn man sich die Vielzahl der Reifenmuster ansieht, verliert man allmählich den Glauben an das ausschließlich Funktionalistische. Natürlich wird ein Ingenieur in erster Linie die technischen Aspekte als Ausgangspunkt für die Gestaltung nennen. Aber trotzdem arbeitet er mit der Wiederholung der Grundformen. Das war wichtig für mich, das hat mich beeindruckt.
D Sie sagten gerade "Grundformen". Was verstehen Sie darunter?
F Grundformen sind geschlossene oder offene Formen wie etwa Kreis, Dreieck, Raute, Quadrat, Pfeil, Kreuz, Wellenlinie.
D Solche Formen finden sich auch bei Ihrer zweiten Serie, den Abreibungen von Abdeckplatten, etwa von Schachtdeckeln. Auch bei diesen handelt es sich um industrielle, also massenweise erzeugte Produkte, auch deren Gestaltung liegen - jetzt bin ich schon vorsichtig - primär funktionalistische Überlegungen zugrunde, so soll etwa ein Ausrutschen möglichst verhindert werden.
F Aus welchen Nützlichkeitsüberlegungen diese Musterungen auf den Schachtdeckeln sind, interessiert mich erst in zweiter Linie. Wichtig ist, daß ich an zivilisierten Plätzen so etwas entdecke,das ...
D Konkret geschah dies in New York.
F Ja,… das also zu Mustern angeordnete einfache Formen trägt, die völlig
unabhängig von kultureller Zugehörigkeit, unabhängig von Rasse oder
geographischer Lage seit jahrtausenden mondial zu beobachten sind. Sie sprachen
mit einem gewissen Vorbehalt, der auch Abwertung suggeriert, von der
massenweisen Herstellung. Ich denke, wenn wir in Zentralafrika bei einer primitiven
Ethnie die Töpferware betrachten, so wird die sicher auch im Laufe der Jahrhunderte
massenweise hergestellt. Trotzdem kommen wir nicht umhin, daß zum Beispiel in
der Wellenlinie, die diese irdene Ware umgibt, oder in einer rautenförmigen
Bemusterung etwas spürbar wird, das dieser vorhin erwähnten Feldstärke entspricht.
Und diese hat mich interessiert. Natürlich frage ich mich auch: Wieso hatte ich dieses
nicht schon vorher wahrgenommen? Und warum wird es in der Regel nicht
wahrgenommen? Da denke ich mir, daß eben alles viel zu sehr nur im
Funktionszusammenhang gesehen wird. Man sieht die Spur und sagt "Reifen". Das
weiß ich, das
kenne ich - der Fall ist abgehakt, aber ich erlebe nicht mehr direkt.
D Sie sagten, Sie hätten früher auch nichts von der "Feldstärke" wahrgenommen?
F Richtig, kaum.
D In diesem Zusammenhang interessiert mich noch eines: Wann begann eigentlich Ihre Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen? Geschah dies erst in Folge des Frankfurter Erlebnisses oder schon davor?
F Die erste intensivere Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen, besonders der des zentralafrikanischen Raumes, fällt in die Zeit des erwähnten "Urerlebnisses". Man kann also den Eindruck gewinnen, daß ich etwa durch die Beschäftigung mit den gemusterten Textilien aus Zentralafrika sensibilisiert wurde für eine ähnliche Gegebenheit in unserer Zivilisation. Und so war es auch tatsächlich; denn die erste Arbeit, die Beschäftigung mit den Pneuprints, zeigt all die Eigenschaften, die ich bei diesen Textilien bewundere.
D Welche Textilien meinen Sie konkret?
F Textilien aus den Fasern der Raphiapalme, hergestellt im Bereich des Königreiches Kuba, in Zentralafrika, im heutigen Zaire. Insbesondere die Gewebe der Shoowa, Bushoong, Ngeende . . .
D Und bei diesen Produkten sehen Sie die stärksten Entsprechungen zu den von Ihnen gefundenen Formen und Mustern?
F Ja. Es gibt sogar Überschneidungen, wie dies eine Anekdote zum Ausdruck bringt: In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts kamen Missionare zu diesen Eingeborenen, und
zwar mit einem Motorrad, wobei die Eingeborenen weniger vom Motorrad beeindruckt waren, sondern mehr von dessen Reifenspuren im Lehm. Von diesen Spuren waren sie so fasziniert, daß der König Kot Mabinc befahl, dieses im Lehm sichtbare Muster dem Repertoire der Stammesmuster hinzuzufügen. Und in der Tat kann man das an manchen Raphiavelours erkennen. Ich erwarb selbst ein solches Exemplar, in dem ganz eindeutig eine Reifenspur in die übliche Stammesmusterung eingearbeitet ist.
D Und diese Geschichte kannten Sie bereits vor Ihrem Pneuprint-Erlebnis?
F Nein. Ich beschäftigte mich zwar schon vorher mit den Geweben - oder zumindest gleichzeitig - aber diese Geschichte hatte ich damals noch nicht gehört. Ich sah damals auch noch nicht, daß diese Muster etwas mit Reifenspuren zu tun haben könnten. Doch schon kurze Zeit später, bei einer Ausstellung solcher Gewebe in Wien, machte mich ein deutscher Sammler auf diese Zusammenhänge aufmerksam, was mich natürlich gleichsam elektrisiert hat. Da waren offenbar sogenannte Primitive von den Erzeugnissen der Ersten Welt beeindruckt, wo es doch sonst immer umgekehrt ist.
D Würden Sie denn so weit gehen und Ihre Arbeiten in der Hinsicht interpretieren, daß sie auch eine Kritik an der zeitgenössischen Kunst sind, zumindest der des euro- amerikanischen Kulturkreises, da sich diese - Ihrer Ansicht nach - allzuweit von den Grundbedürfnissen weg entwickelt hat?
F "Grundbedürfnisse" ist ein gutes Stichwort. Diese gibt es, und sie wollen gestillt sein. In zahlreichen Abhandlungen taucht immer wieder der Gedanke auf, daß in einer bereits so weitgehend digitalisierten Weit, wie der, in der wir heute leben, der empfindende Mensch auf der Strecke bleibt. Für mich
ist es ja eigenartig zu denken, daß das, was mich da so getroffen hat, zum Beispiel die
einfache gerautete Darstellung auf einem Schachtdeckel, daß diese Faszination schon
vor tausenden von Jahren aktuell war und noch in tausenden von Jahren aktuell sein
wird. Das, was ich da gefunden habe, erscheint mir gleichsam wie ein roter Faden.
Was nun die gegenwärtige Situation des euro-amerikanischen Kulturkreises
anbetrifft, so bin ich beispielsweise beim eingangs erwähnten Besuch des Museums
für Moderne Kunst in Frankfurt in vieler Hinsicht leer ausgegangen; ein Gefühl des
Getroffenseins hat sich bei der Betrachtung von Blumes Fotoarbeiten, von Förgs
Wandbemalung oder von Darbovens schwarz gerahmter Reihung nicht eingestellt; … ja, ich halte diese Beispiele für allzu weit von den Grundbedürfnissen entfernt. Aber das impliziert nicht, daß meine Arbeit als Kritik zu verstehen ist, da geht denn die
Fragestellung zu weit.
D Kommen wir noch einmal zurück zu den Anfängen unseres Jahrhunderts, zu der auch von Ihnen erwähnten Auseinandersetzung vieler europäischer Künstler mit den Erzeugnissen außereuropäischer Kulturen. Wenn Sie die Resultate dieser Beschäftigung betrachten, glauben Sie, daß die damals entstandenen Bilder und Objekte wirklich wieder etwas von dieser Urkraft, wie Sie sie nannten, ausstrahlen, daß diese Künstler wirklich wieder zum Ursprung des Schaffens zurückgefunden haben? Oder war es nicht eher so, daß - aus welchen Gründen immer - einfach Formen übernommen wurden, versucht wurde, die eigenen Gestaltungen mit dem Reiz des Exotischen aufzufrischen?
F Das ist ein sehr interessanter Punkt. So wie Sie das formulieren, klingt es fast als würden Sie suggerieren, es sei so etwas wie Nachäffen gewesen. Nicht zuletzt durch meine eigene Arbeit kann ich aber erkennen, daß dieser Vorgang so nicht begreifbar ist. Es mag zwar die eine oder andere Form
übernommen worden sein, aber in erster Linie haben diese Künstler ident mit den Vorbildern empfunden. Durch die Anschauung von Stammeskunst waren sie in der Lage, Ballast aus ihrem Repertoire abzuwerfen und somit gewissermaßen formal zu jäten. Ich denke hier zum Beispiel an das Alterswerk von Paul Klee, das eine unbedingte Nähe zu bestimmten Tanzwickelröcken, sogenannten Ntshaks, aus Zentralafrika hat. Man kann natürlich der Ansicht sein, er hätte nur das formale Repertoire übernommen. Ich bin aber überzeugt davon, daß er auch so empfunden hat. Man kann dies deutlich spüren. Auch das Werk von Chillida ist auf weiten Strecken verwandt zu gewissen textilen Erzeugnissen aus Afrika. Es scheint mir aber unmöglich, ein solches Werk nur durch formale Übernahmen, ohne inneres Erlebnis stimmig zu verwirklichen.
D Bei aller verwandter Empfindung, die ich gar nicht bestreiten möchte, haben diese Künstler doch etwas anderes gestaltet, sie haben die Anregungen - und das betrifft nicht nur das Formale - zu eigenen Schöpfungen weiter verarbeitet. Bei Ihren Werken hingegen - zumindest bei diesen beiden Serien - ist der persönliche Gestaltungsakt relativ gering.
F Das stimmt, der Gestaltungsakt bewegt sich in einem Grenzbereich, er ist beinahe unwichtig. In erster Linie zeige ich mir ja selbst etwas, meine persönliche Erfahrung wird wesentlich erweitert, meine Sicht der Umwelt in dieser Zivilisation. Ich hebe einen ausgewählten Ausschnitt von Vorgefundenem heraus und zeige ihn. Möglicherweise wird er dann auch für den Betrachter zu einem Kristallisationspunkt für eine ähnliche Erfahrung. Das klingt jetzt ein wenig nach dem Urinoir, das man abmontiert und in ein anderes Ambiente versetzt.
D Womit wir bei einem weiteren Meilenstein der Kunst unseres Jahrhunderts sind, bei den Ready-mades von Marcel Duchamp. Gerade heute sind wir wieder mit einer Unzahl von
Variationen dieser Idee konfrontiert, wobei allerdings fraglich ist, ob auch nur eine den Intentionen Duchamps entsprechen würde. So wie Sie das Urinoir ins Gespräch bringen, klingt es für mich einerseits nach einer Analogie zu Ihren Arbeiten, andererseits aber auch nach Distanzierung.
F Nein, ich stelle es bewußt in die Nähe. Nur ist das eine Überlegung a posteriori. Wenn man eine solche Fotoarbeit oder solche Abformungen gemacht hat, dann drängt sich ja fast zwangsläufig die schon von Ihnen gestellte Frage auf-. Wo bin ich denn? Bin ich noch da? Und da helfen die wunderbaren, eindeutigen Präzedenzfälle der Kunstgeschichte, wie der Flaschentrockner oder das Urinoir, also einfache Gegenstände, die Duchamp aus ihrer Umgebung herausgehoben und woanders hingestellt hat, wodurch sie den Charakter von Kunstwerken angenommen haben. Für mich ist das insofern interessant und vergleichbar - abgesehen von allen weiteren theoretischen Implikationen -, als ein verkehrt aufgestelltes und mit "Richard Mutt" signiertes Urinoir, stehe ich davor, bei mir zuallererst Betroffenheit auslöst, Da wird mir erst bewußt, wie ein Urinoir aussieht. In der Regel pisse ich ja nur hinein und nehme es als Formgestalt so gut wie nicht wahr. In einem Ausstellungsraum ist es für mich aber ein völlig neues Erlebnis. Und ich denke, wenn ich die Pneuprints heraushebe oder Strukturen von Eisenplatten und Schachtdeckeln abnehme und an der Wand zeige, dann erleichtert dies die Erkenntnis: Hier trifft mich etwas, in dem ich mich selbst erkenne.
D Würden Sie sich denn der Meinung von Robert Rauschenberg anschließen, der einmal über den Flaschentrockner sagte, dieser sei für ihn die schönste Skulptur des 20. Jahrhunderts?
F Wir müssen da sehr aufpassen und genau unterscheiden. Sie sind jetzt direkt zum schönen Objekt übergesprungen. Und genau das meine ich nicht. Ich muß also präzisieren und
versuchen, es zumindest theoretisch zu trennen, Einerseits geht es darum, in der Lage zu sein, ein Objekt überhaupt wahrzunehmen, andererseits besteht die Möglichkeit, ein Objekt schön, interessant oder was immer zu empfinden. Mir geht es um den Akt des Herausnehmens, nur darin sehe ich eine Parallele zu den Ready-mades. Indem ich etwas bereits Fertiges aus seiner Umgebung heraushebe - fast ohne persönliches Zutun -, mache ich es sichtbar. Das Schöne und Interessante, das Rauschenberg anspricht, interessiert mich nicht. Es geht mir hier nicht um Ästhetik. jedenfalls nicht in erster Linie. Natürlich, ich verwende bei meinen Fotos ein grobes Korn, ich bediene mich einer gewissen Schwarzweißtönung, das hat sicherlich mit Ästhetik zu tun, auch mit unserer Zeit - vor einigen Jahrzehnten hätte man sicherlich möglichst feinkörnig gearbeitet; aber diese Form der Schönheit interessiert mich nur in zweiter Linie. Darum geht es nicht wesentlich. Man könnte es auch ganz anders machen, das ändert nichts an meinem Grundinteresse, an der Grunderfahrung und an dem, was ich hinüberbringen will.
D Ich will versuchen, etwas präziser zu fragen: Sie interessiert also vor allem das Phänomen, daß bei den von Ihnen hervorgehobenen Dingen Muster vorkommen, die aus Formen bestehen, die so etwas wie Grundformen sind, die bereits im Menschen selbst angelegt sind?
F Richtig. Diese Formen erlebt offenbar der Mensch aufgrund seiner tiefenpsychologischen Struktur als archetypisches Potential. Nur ist er in der Regel nicht in der Lage, dieses Potential wahrzunehmen - zumindest nicht in unserer Zivilisation. Bei uns kommt es sehr schnell zu einem Abhaken und kaum zu einem echten Erleben. Nehmen Sie zum Beispiel die Schrift. Wir sind kaum in der Lage, die kalligraphische Qualität einer für uns lesbaren Schrift zu empfinden, da wir ja sofort lesen. Und mit unserem Verstand, mit unserem Bewußtsein wird dabei
jede Tiefenstruktur zugedeckt. Nehmen wir dagegen eine Kalligraphie, die ich nicht lesen kann, etwa im Chinesischen oder japanischen, die kann ich sehr wohl hinsichtlich ihrer Stimmigkeit beurteilen. Das heißt, ich kann sie emotionell wie eins zu eins lesen und kenne mich absolut aus, obwohl ich nicht verstehe, was geschrieben steht. Das ist doch interessant, das ist ein Mysterium, aber es zeigt mir ganz genau, wie wir hier in unserer Zivilisation durch das verstandesgemäße Erkennen zum Beispiel: aha, das ist der Abdruck eines Autoreifens nicht mehr in der Lage sind, diese Dinge neu, wie ein Kind zu erleben.
D Könnte man es dann vielleicht so formulieren: Sie sind der Meinung, beziehungsweise Sie glauben, durch Ihre Arbeit erkannt zu haben, daß sich die Kultur unserer Zivilisation schon allzusehr von ihren Ursprüngen entfernt hat?
F Ja, wenn Sie Kultur als etwas begreifen, das diese Tiefenstrukturen des Menschen befriedigt. Das spürten ja auch damals die Surrealisten, als sie die Automatik und die Ausschaltung der Vernunft, der Überlegung forderten.
D Nun fanden Sie aber Ihre Urformen bei funktionalistischen Objekten - das wird jedenfalls primär von Ihnen behauptet - und auch diese sind Erzeugnisse unserer Zivilisation. Und trotzdem entdeckten Sie gerade bei diesen technoiden Produkten starke Entsprechungen zu Hervorbringungen sogenannter primitiver Kulturen.
F Ja, insofern als diese Erzeugnisse all das entbehren, was kunstspekulatives Beiwerk ist.


Wien, Jänner 1994